Wir stärken alle Akteur:innen, die sich für das Wohlergehen von Kindern engagieren

Mein Redebeitrag zum Antrag der Fraktionen CDU, BÜNDNISGRÜNE und SPD: „Kinder und Jugendliche in Sachsen besser vor sexueller Gewalt und Missbrauch schützen“ (Drs 7/12241)

65. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Donnerstag, 02.02.2023, TOP 5

– Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleg*innen,

lassen sie mich mit einem Zitat von Kerstin Claus, der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung beginnen:

„Sexuelle Gewalt ist nichts Abstraktes, irgendwo weit weg, auf irgendeinem Campingplatz oder auf irgendwelchen Servern – sexuelle Gewalt ist ganz nah dran und kann überall passieren. Es ist Zeit, den Gedanken daran nicht mehr wegzuschieben. Und sich zu fragen: Was könnte ich tun, wenn ich damit konfrontiert bin?“

Mh, jetzt haut sie ein Zitat hin, was betroffen macht, aber was soll der Landtag damit jetzt anfangen?

Lassen sie mich anhand von drei Fragen dem schwierigen Thema von Prävention sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und unseren Möglichkeiten Kinder besser zu schützen näherkommen.

  1. Wem kommt hier welche Verantwortung zu?
  2. Warum ist sexueller Missbrauch in den letzten Jahren so ein Thema geworden?
  3. Und was können wir als Land noch tun?

Ich werde versuchen alle drei Fragen zu beantworten.

Die erste Frage, wer etwas tun muss, ist die schwerste. Das Problem wäre gelöst, wenn keiner und keine anderen Menschen sexuelle Gewalt antäte. Gemeint sind dabei alle Handlungen, die das Selbstbestimmungsrecht des Kindes bzw. Jugendlichen verletzten, um als Täter seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Täter und Täterinnen nutzen dabei ihre Machtposition aus, insbesondere hinsichtlich der körperlichen, geistigen und seelischen Unterlegenheit von Kindern. Das Spektrum der Übergriffe reicht von anzüglichen Bemerkungen über Grabschen bis zur Vergewaltigung. Sexuelle Gewalt passiert nicht aus Versehen. Es sind bewusste Übergriffe!

Damit sind die Täter und Täterinnen diejenigen, die viel Leid und Traumatisierung verhindern könnten. Sie tun es aber nicht, sie machen weiter. Also müssen wir schauen, wo sich die Kette an Missbrauch, Verletzungen und Straftaten unterbrechen lässt.

Das Problem wäre auch gelöst, wenn Eltern oder das direkte Umfeld so vertrauensvoll mit ihren Kindern umgingen, dass sie sofort mitbekämen, wenn ihnen Leid zugefügt wird. Oft gelingt das, aber eben nicht immer. Deshalb müssen wir weiter schauen, wo sich diese Kette unterbrechen lässt.

Kinder und Jugendliche leben in Städten und Gemeinden, gehen in die Kita und Schule, besuchen den Jugendklub, machen Sport im Verein und teilen ihr Leben im Jugendverband. Gut wäre, wenn Pädagog*innen und Ehrenamtliche, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, oder Ärzt*innen beim kleinsten Verdacht hellhörig würden und reagierten. Oft gelingt das, aber eben nicht immer.
Das hinterlässt dann den Auftrag auch bei uns als Gesetz- und Mittelgeber, nochmal genau zu überlegen, wie wir die Lücke schließen können und was es braucht, dass alle Kinder und Jugendlichen in der Not auch wirklich Gehör und Schutz finden.

Welche Strategien müssen wir zur Verfügung stellen, damit ein Kind – egal, ob in Dresden oder Zwönitz, in Reichenbach oder Belgern – Gehör und Schutz erfährt?

Schuld ist der Täter oder die Täterin, aber wer nicht alles tut, um Gefahr abzuwenden, ist nicht unschuldig! Im vergangenen Jahrzehnt hat das Thema Kinderschutz in mehrere Gesetzbücher Eingang gefunden.

So steht das Bundeskinderschutzgesetz seit seinem Inkrafttreten im Jahr 2012 für umfassende Verbesserungen des Kinderschutzes in Deutschland, sowohl im Bereich des vorbeugenden Schutzes von Kindern als auch beim Eingreifen bei dessen Verletzung. Das Gesetz stärkt alle Akteur*innen, die sich für das Wohlergehen von Kindern engagieren – angefangen bei den Eltern über den Kinderarzt oder die Hebamme bis hin zum Jugendamt oder dem Familiengericht. Der Bund hat 2020 Empfehlungen an die Landespolitik formuliert, um diese Verantwortung tragen zu können.

Diese Empfehlungen finden sie übersetzt auf die sächsischen Verhältnisse im Antrag wieder, so zum Beispiel:

Das Gesamtkonzept, in dem Erfahrungen gebündelt und Entwicklungsbedarfe, also noch offenen Aufgaben herausgearbeitet werden.

Um der Verantwortung gerecht werden zu können, braucht es Prävention und Beratungsstellen, die Kinder, Jugendliche, ihre Familien, aber auch Mitarbeiter*innen begleiten und in Krisen für sie da sind.

Wir wissen heute, dass Kinder dann schneller zu Opfern werden, wenn sie sich ihrer Rechte an ihrem Körper nicht bewusst sind, wenn sie keine Wörter haben, die diesen beschreiben und wenn sie nicht gelernt haben, über Gefühle, Verletzungen, Erfahrungen und insbesondere auch über schlechte Erfahrungen zu reden.

Auch sollten wir ihnen das richtige Werkzeug an die Hand geben, damit sie erkennen können, wann eine Person keine guten Absichten hat. All das kann und muss jedes Kind lernen dürfen, um sich, wenn es in seiner Selbstbestimmung bedroht wird, zu wehren und Erwachsene um Hilfe zu bitten.

Der Bund formuliert dazu klare Empfehlungen, die wir im Antrag an verschiedenen Stellen aufgreifen.

Das Vorhandensein von Anlaufstellen und deren Erreichbarkeit soll durch eine digitale Landkarte verbessert werden. Wir wissen, dass diese Landkarte noch graue und weiße Flecken hat, deshalb war es uns wichtig, im Doppelhaushalt Mittel in Höhe von 550.000 Euro zur Verfügung zu stellen, um diese zu schließen.

Starke, ja auch aufgeklärte Kinder, achtsame Eltern und geschulte Pädagog*innen sind eine wirkungsvolle Prävention, um Missbrauch schon früh zu stoppen und so die negativen Folgen so gering wie möglich zu halten.

Zur zweiten Frage, ob wir wirklich ein Problem mit sexuellem Missbrauch haben oder ob sich nur der Fokus verschiebt: Diese Frage ist eine Provokation, weil jede betroffene Person sofort sagen wird, es geht nicht um die Menge. Es geht darum, jeden einzelnen Fall zu verhindern und jedes einzelne Schicksal zu sehen.

Aber auch statistisch lässt sich zeigen, dass im Hellfeld, also dort wo Strafverfahren eingeleitet werden, die Opferzahlen leider stabil hoch sind.

In Deutschland wurden im Jahr 2020 rund 14.500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Das Dunkelfeld ist aber um ein Vielfaches größer.

Beim Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern (§§ 176, 176b StGB) haben wir 2020 885 Opfer und 2021 857. Darin enthalten sind auch die Straftaten, die als besonders schwerer sexueller Missbrauch (§ 176a StGB) geahndet werden. Diese Zahlen stiegen von 24 auf 165 innerhalb nur eines Jahres.

Auch die Strafverfahren wegen Missbrauchs von Jugendlichen (§ 174 StGB), also jungen Menschen ab 14 Jahren, bleibt mit 53 bzw. 56 Opfern stabil hoch.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Um das mal bildlich zu machen: Das sind rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse. Viele dieser Fälle gehen nicht in die Kriminalstatistik ein, weil sie nie zur Anzeige gebracht werden, und bilden sich auch ansonsten nicht im Hellfeld ab. Das einzelne Schicksal verdient es, dass wir Prävention und Begleitung stärken und die Kriminalstatistik zeigt, dass es notwendig ist, hier zu handeln.

Die dritte und letzte Frage, die ich aufgeworfen haben ist: Was können wir denn als Land überhaupt noch tun?

Die einfache Antwort: Eine ganze Menge!

  1. Das Weitermachen, was schon gut läuft und das ist gar nicht wenig.
  2. Die fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderschutz öffentlich führen, auch in den Landkreisen werben und dauerhafte Angebote finanzieren.
  3. Die Mittel des Doppelhaushaltes nutzen und über Best Practice und Projekte dort etwas aufbauen, wo Präventions- und Beratungsangebote noch nicht flächendeckend zur Verfügung stehen.
  4. Unsere Familien, Pädagog*innen und Ehrenamtliche durch lebensweltnahe Beratung und Fortbildung, gern auch digital, den Rücken stärken, um diese emotional schweren Themen tragen zu können.
  5. Die landesweite Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt als Institution wachsen lassen. Fachlichen aber auch politischen Lobbyismus im besten Sinne für Kinder und Jugendliche machen, Probleme benennen und Lösungen gemeinsam suchen.
  6. Die Vernetzung von Jugendarbeit, Familienbildung und Intervention weiter fördern und auch ihnen den Zugang zu erfahrenen Fachkräften sicherstellen.
  7. Die Jugendämter durch eine Evaluation ihrer derzeit extrem angespannten Helfersituation mit Handlungsstrategien unterstützen, die den großen Herausforderungen der komplexen Fälle im Bereich HzE gerecht werden und
  8. in der Zusammenarbeit von Polizei und Justiz weiter an kindgerechten Verfahren arbeiten, um Opfern mehrfache Aussagen und dadurch eine weitere Traumatisierung im Verfahren zu ersparen.

Im Dezember 2023 können wir im Masterplan Kinderschutz lesen, was sich die Staatsregierung ausgehend von diesem Antrag und den zur Verfügung gestellten Mitteln an Zielen gesetzt hat. Ich bin auf diese Zielbeschreibung und die Maßnahmen sehr gespannt und weiß, dass wir damit im Bereich Prävention einen großen Schritt nach vorn gehen.

Erfolgreich sind wir dann gewesen, wenn die einzelnen Mitarbeiter*innen im Allgemeinen Sozialen Dienst beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch im Umfeld eines Kindes frühzeitig von der Kitasozialarbeiterin informiert werden, die vorher ihr Bauchgefühl in der Kita bei der insoweit erfahrenen Fachkraft abklären konnten, um keinen falschen Alarm zu schlagen. Beide suchen das Gespräch zur Familie, die natürlich erschrocken ist und überlegt, wo und wie kann das Kind vielleicht zu Dingen gezwungen worden sein, die dessen sexuelle Selbstbestimmung widerspricht. In mehreren Beratungen wird die Familie gestärkt, der Verdacht bestätigt sich und der Täter wird vom Kind isoliert. Die Eltern wissen, dass sie jederzeit Unterstützung in der Familienberatung finden und dass ihr Kind jetzt Stück für Stück lernt, über sein Erlebtes zu sprechen. Im schlimmsten Fall findet der Missbrauch auch innerhalb der Kernfamilie statt und das Kind muss aus der Familie genommen werden. Gerade in diesem Fall braucht es viel Professionalität und wir müssen alle Akteure stärken.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Kolleg*innen,
dieser Antrag ist wichtig, weil „Jedes Kind ist ein Stück Zukunft“ ist und wir als Erwachsene die Verantwortung haben, unser Möglichstes zu tun, um Kinder und Jugendliche gut in diese Zukunft zu begleiten.

Ich bedanke mich für die fachlich wertvolle Auseinandersetzung mit dem Thema, auch für die weiteren Anregungen.

Auf die AfD möchte ich nur kurz eingehen, weil es nicht meinem Weltbild entspricht, wie und in welcher Form hier die Auseinandersetzung geführt wird. Kinder und Jugendliche werden nicht sexualisiert, nur weil man ihnen ihre Körperteile erklärt und damit Worte gibt, um in guten wie in schlechten Zeiten sprachfähig zu sein. Die Tabuisierung dieser Themen spielt den Tätern und Täterinnen nur in die Karten und das ist ganz hoffentlich nicht ihre Absicht.

Den wertvollen Hinweis von Kollegin Gorskih lege ich dem Sächsischen Sozialministerium bei der Umsetzung nahe, sehe aber die Frage der Finanzierung und auch der Durchsetzung in nicht ganz so aufgeklärten Strukturen als sehr hinderlich.

Ich möchte nochmal um Zustimmung werben – und um das Zitat vom Beginn nochmal aufzugreifen: Das Thema der sexuellen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche dürfen wir nicht einfach wegschieben, sondern offensiv damit umzugehen. Er wird dazu führen, dass Prävention gestärkt wird, Professionalität auch in der Fläche zur Verfügung steht und die Opfer mehr Beistand erhalten, das Erfahrene zu verarbeiten.

Herzlichen Dank für die Debatte und ich hoffe auf breite Zustimmung.