Infektionsschutzmaßnahmen für ein anpassungsfähiges, krisenfestes und transparentes sächsisches Gesundheits- und Pflegewesen in der Pandemie

Maßnahmenpapier der LAG Gesundheit und Soziales zur Beratung für den Landesparteirat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen zur Sitzung am 28.11.2020.

Die pandemische Lage beherrscht den Freistaat Sachsen in besonderer Weise. In den letzten Monaten wurden mannigfaltige Regelungen, Verfahren und Maßnahmen getroffen, um die Ausbreitung der Pandemie zu stoppen und die gesundheitliche Versorgung sicher zu stellen. Bündnisgrüne Politik ist dabei von den Grundsätzen der Mündigkeit der/des Einzelnen, von der Unverletzlichkeit der Grundrechte und von der Solidarität aller geprägt. Diese Werte sind für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch in Krisensituationen handlungsleitend. Um der Krise praktisch zu begegnen, hat die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Gesundheit und Soziales mit ihren Mitgliedern ergänzend zu den Maßnahmen des Freistaates Sachsen konkrete Vorschläge erarbeitet:

Wissenschaftliche Unterstützung der Landespolitik, durch…

  1. die Gründung eines sächsischen Pandemie-Rates, der alle gesellschaftlichen Bereiche abbildet und der beim Landtag angesiedelt und multidisziplinär besetzt ist. Er ersetzt die bisherige erratische Beratung einzelner politischer Entscheider*innen durch einzelne Wissenschaftler*innen und evaluiert regelmäßig die Situation im Freistaat sowie neue wissenschaftliche Erkenntnisse und internationale Best-Practice-Beispiele in ihrer Bedeutung für die sächsische Pandemie-Lage. Empfehlungen des sächsischen Pandemie-Rates werden öffentlich und transparent kommuniziert und in regelmäßigen Abständen von Regierung und Parlament angehört.

Ausbau von Maßnahmen der Prävention und Kommunikation, durch…

  1. wöchentliche Schnelltests für Grenzpendler*innen, ggf. bei beschränkten Schnelltest-Kapazitäten fokussiert auf jene, die in Pflege- und Medizinberufen arbeiten, solang in Tschechien bzw. Polen relevante Infektionsdynamiken abgrenzbar sind.
  2. mehr Kapazitäten zum Testen der Mitarbeiter*innen in Pflege- und Gemeinschaftseinrichtungen, der ambulanten Pflege und Mitarbeiter*innen von Risikobereichen in den Kliniken vor Dienstbeginn mit Schnelltests in den Hochinzidenz-Landkreisen.
  1. eine Prüfung, ob in Hochinzidenz-Regionen eine Massentestung der Bevölkerung mit Schnelltests nach slowakischem Vorbild erfolgen kann, um trotz zusammengebrochener Kontaktnachverfolgung eine wirksame Quarantäne aller aktuell Infizierten zu ermöglichen.
  2. eine verbesserte Kommunikation der geänderten Teststrategie der Bundesregierung und des Einsatzes von Schnelltests.
  3. die Veröffentlichung eines leicht verständlichen Schemas zur Quarantäne für Kontaktpersonen.
  4. eine Förderung für die Ausstattung von medizinischen Wartezimmern, Besuchs- und Behandlungsräumen in Pflegeeinrichtungen, ggf. auch Klassenräumen und Kinder-Tagesstätten und weiteren Bildungseinrichtungen mit Luftfiltern.
  5. eine Prüfung, ob in jeder Gemeinde ein größerer Raum so mit Luftfilter und weiteren Hygieneschutzvorkehrungen ausgestattet werden kann, dass dort für die Dauer der Pandemie für einen geringen Betrag Familienfeiern, Gemeindeveranstaltungen und Vereinsveranstaltungen mit Abstand und reduziertem Ansteckungsrisiko für Gruppen bis 50 Menschen ermöglicht werden können.
  6. gezielte durch die zuständigen Ministerien in Auftrag gegebene Forschung für die entscheidungsrelevante Frage nach Ansteckungsrisiken im ÖPNV und am Arbeitsplatz, die aktuell noch nicht ausreichend aufgearbeitet sind.
  7. die kostenfreie kontingentierte FFP-Masken-Ausgabe für alle Risikogruppen.
  8. eine Vereinheitlichung der MNS-Attest-Formulare in Zusammenarbeit mit der Landesärztekammer für eine bessere Erkennbarkeit von Fälschungen.
  9. eine Entzerrung des Arbeits- und Schulverkehrs im ÖPNV durch Verstärkungsfahrten von externen Anbietern.

Weitere Verstärkung von Maßnahmen im Bereich Pflege und Gesundheit, durch…

  1. sofortige Testung in Pflegeeinrichtungen bei Verdachtsfällen. Dazu müssen prioritär Testkapazitäten und Testteams sichergestellt werden.
  2. vorrangige PCR-Test-Auswertung für stationäre Patient*innen, Pflegeheim-Bewohner*innen und Gesundheitspersonal, um zeitnahe Verlegungen und Quarantäne-Maßnahmen in Hochrisiko-Kontexten zu gewährleisten.
  3. die prioritäre Organisation der Verlegung von Patienten*innen aus dem Krankenhaus zurück in ambulante und stationäre Einrichtungen, um die Kapazitäten der Krankenhäuser zu entlasten, ergänzt durch Maßnahmen zur Sicherstellung der schnellen Testung, Organisation von Heilmitteln und Unterstützung bei der Organisation der Anschluss-Pflege für stationäre Patient*innen durch eine Task Force Pflege.
  4. Beratung und Begleitung der Pflegedienstleister durch mobile Beratungsteams und eine Beratungshotline (Hygienekonzept-Mustervorlagen; Beratungsangebote für Einrichtungen mit Corona-Ausbruch; Hilfestellungen bei Vorfinanzierung Schnelltests etc.).
  5. Beschränkung der Schichtlänge für Pflegekräfte und Ärzt*innen auf Covid-Stationen auf acht Stunden, um das Selbstinfektionsrisiko der Behandelnden zu minimieren.
  6. die Entwicklung eines Personalausfalls-Konzeptes in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen gemeinsam mit der Landeskrankenhausgesellschaft und Pflegeheim-Trägern zur Aufrechterhaltung der medizinischen und pflegerischen Versorgung im Freistaat.
  7. gezielte Schulungen für insbesondere auch im ambulanten Bereich tätigen Pflegekräfte zu wirksamen Infektionsschutz-Möglichkeiten für Pflegebedürftige, die in den eigenen vier Wänden leben.
  8. die Erstellung und Zustellung von Musterhandlungsleitfäden für den Umgang mit Coronapositivfällen in Pflegeeinrichtungen, Gemeinschaftseinrichtungen und sonstigen Wohnformen sowie Tagespflege-Einrichtungen.
  9. zusätzliche Unterstützung der Arbeitsabläufe in den Gesundheitsämtern durch Studierende; dies soll insbesondere auch ermöglichen, dass die Nachverfolgung weiterer meldepflichtiger Erkrankungen wie beispielsweise Tuberkulose weiterhin erfolgen kann.
  10. barrierearme und schnelle organisatorische und fachliche Unterstützung für Kliniken, die einen Coronaausbruch, um die Klinikkapazitäten abzusichern.
  11. die Erarbeitung eines Zeitplanes zur Umsetzung der flächendeckenden Digitalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) (z.B. https://www.sormas-oegd.de)
  12. eine Prüfung auf Bundesebene zur Vereinfachung der Abrechnung bzw. Bezahlung von PCR-Tests.
  13. eine Überarbeitung der Quarantäne-Empfehlungen für Kinder auf Bundesebene, um eine der Lebensrealität von Kindern und Familien adäquatere Empfehlung zu erreichen.
  14. eine sofortige Ausstattung von Psychiatrien und anderen freiheitsbeschränkenden Unterbringungen, die Besuchseinschränkungen unterliegen, mit digitaler Infrastruktur und WLAN.
  15. einen Ausbau der Werbekampagne zur Corona-Warn-App.

Begründung:

Es ist teilweise erschreckend, wie wenig sich die Debatten zu wirksamen Corona-Infektionsschutzmaßnahmen in den letzten Monaten weiterentwickelt haben, wie wenig wir auch knapp acht Monate nach Beginn der ersten Maßnahmen im Freistaat eine funktionierende Langzeit-Strategie der Ministerpräsident*innen-Konferenz und der Bundesregierung erkennen können. Viele der Forderungen, die wir Bündnisgrüne bereits im Frühjahr äußerten, behalten ihre Gültigkeit und sind in großen Teilen bis heute nicht eingelöst worden

Nach den Versäumnissen in den Sommermonaten konzentrieren sich die gesellschaftlichen Debatten inzwischen erneut auf die notwendigen kurzfristigen politischen, auch gesundheitspolitischen Entscheidungen der nächsten Wochen. Wir müssen aber endlich konkrete Vorstellung davon entwickeln, welche gesellschaftlichen Strategien und Ziele wir langfristig in der Krise und für die Zeit nach der Krise verfolgen und entsprechende Entscheidungen treffen. Das gilt auch für unser Gesundheitswesen, das diese Krise nicht nur überstehen muss, sondern aus ihr gerechter, stabiler und mit  einer  verbesserten  Versorgungsqualität  hervorgehen  sollte. Gleiches gilt auch für unser Bildungssystem, unsere Kulturlandschaft, unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, die Stabilität und Akzeptanz unserer Demokratie und vieles mehr.

Die Coronakrise verlangt nach politischen Antworten auf internationaler, auf europäischer, auf nationaler Ebene, auf Ebene des Freistaats und der Kommunen. Deswegen streben wir außerdem auf allen Ebenen multidisziplinäre Pandemie-Räte aus Wissenschaftler*innen an, die neue wissenschaftliche Ergebnisse und internationale Best-Practice-Beispiele der Infektions-Prävention so aufbereiten, dass politische Entscheider*innen und die Öffentlichkeit sie zeitnah in ihre Überlegungen einbeziehen können.